Dienstag, 1. September 2009

Glaube

"Er habe an etwas geglaubt. An die klassische Harmonie zum Beispiel. An die Regeln des Kontrapunkts als Widerspiegelung der universellen Symmetrie. Jawohl, er sei von der Vernunft überzeugt gewesen und vom gesunden Menschenverstand ... Aber dann war jener Schicksalsmorgen gekommen, der 1. September des schwarzen Jahres 1939, der für die Hälfte der Menschheit ein Schlußstrich war. Das Ende der alten Zeitrechnung. Für Itzek Jungerwirth war es der Untergang. Er hatte zerbrechliche Hände, eine dünne Haut und nicht den geringsten Sinn für praktische Angelegenheiten. Um ihn herum platzten Bomben und Granaten. Er aber suchte fieberhaft nach seinem Reisepaß. Er wollte verreisen. Nicht aus Angst, sondern aus Verbitterung; weil man bei diesem Krach nicht Klavier spielen konnte. Aus dem Westen kam die Wehrmacht, aus dem Osten die rote Armee, und Itzek ging zum Hauptbahnhof, um eine Fahrkarte nach New York zu lösen, wo er einen Onkel hatte. Aber die Schalter waren geschlossen: "Wegen Weltuntergang außer Betrieb", wie ein Witzbold an das Eingangsportal geschmiert hatte. Die Eisenbahnen verkehrten nicht mehr, die Ostseehäfen waren blockiert, alle Flugplätze zerstört. Der Klaviervirtuose mußte feststellen, daß sämtliche Fluchtwege abgeschnitten waren. Es blieb ihm also nur die Wahl zwischen Selbstmord auf deutsch oder Freitod auf russisch. ... Itzek Jungerwirth warf einen Silberzloty in die Luft. Kopf oder Zahl? Er warf Kopf und ergab sich den Russen." Andre Kaminski - Kiebitz